Kratzekind

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Wie uns das Kratzemonster das Fürchten lehrte - oder: Wie alles begann

Achtung - Kratzemonster im Anmarsch!

Wie fing das bei uns eigentlich alles an mit der Neurodermitis und dem Asthma?

Für viele wichtige Einschnitte und Erfahrungen im Leben unserer Kinder haben wir klare Bilder im Kopf. Wann haben sie zum 1. Mal gesprochen? Wo haben sie ihre ersten Schrittchen gemacht? Wann und wo unser Baby ein Kratzekind wurde, können wir dagegen zeitlich nicht klar beziffern; erst im Nachhinein versuchen wir die einzelnen Mosaikstückchen zusammenzulegen. Unsere Odyssee der letzten 5 Jahre erinnert ein bisschen an das Platonische Höhlengleichnis – erst sahen wir gar nichts, später meinten wir, sehen zu können, und erst jetzt realisieren wir, wie dunkel es doch lange Zeit um uns war.

 

Neuro-wie?! Wo bitte geht's zum Durchblick?

Neurodermitis ist nicht einfach über Nacht da wie Masern oder Windpocken; sie kommt schleichend, nähert und entfernt sich, verweilt und verschwindet bevor sie umso stärker aufbrausend zum erneuten Schub anklopft. Sie ist tückisch. Ähnlich verhält es sich mit dem Asthma und vermutlich mit vielen anderen chronischen Krankheiten. Es braucht meist 'belastbare Beweise', einen Krankheitsverlauf, um überhaupt auf die Erkrankung zu kommen! Ein solcher Verlauf ist beim ersten und zweiten Stell-Dich-Ein noch lange nicht gegeben. Daher dauert es oft, bis eine stichhaltige Diagnose vorliegt. Aus der Retrospektive betrachtet liegen wir etwa seit dem Abstillen mit dem Kratzemonster im Clinch. Ich erinnere mich noch, wie ich mich im Krabbel-Kurs wunderte, dass die anderen Babies gar keine derart schorfige Kruste auf der Kopfhaut aufwiesen, und selbst wenn ja,  dass dieser Schorf nach 2-maligem Öl-Auftragen der stolzen Mamas verschwand. "So wachsen ja auch die Haare viel besser.", hörte ich sie stolz verkünden. Hmmpf! Ich ölte und ölte, aber die Beschaffenheit der Kopfhaut änderte sich nicht; immer wieder saß ein glucksendes Baby vor mir, und selbst wenn ich mit 'Knibbeln' ein bisschen nachhalf – der Milchschorf dachte gar nicht daran, sich davonzuschleichen.

Irgendwann kamen die roten Bäckchen und die aufgescheuerten Händchen dazu. "Trockene Haut", diagnostizierte der Kinderarzt zunächst. Bisschen Dermifant, ein Wenig Linola Fett, später Neuroderm drauf und dann läuft das wieder, dachten wir -  Symptombehandlungen aus heutiger Sicht. Irgendwann kamen Arme und Kniebeugen dazu. Dem Kratzemonster gefiel es anscheinend richtig gut bei uns. Es nistete sich ein.  

 

Darf ich vorstellen? Mein Name ist Hustefuchs.

Auch die bronchialen Infekte ließen sich nicht lange bitten. "Ah, da kommt ja unser Hustefuchs", hatte eine Erzieherin an der Kita-Tür einmal zur Begrüßung unseres Kratzekindes gesagt. Das war total lieb gemeint! Aber wenn schon bei Personal und Kita-Freunden der Husten ein Erkennungsmerkmal des eigenen Kindes ist, läuft da noch alles richtig? Ich machte mir nicht zu viel daraus, schließlich ging ich regelmäßig zum Kinderarzt und liess die Infekte überprüfen ("und wieder eine Bronchitis.."). Zudem liest man ja in jeder Apotheken-Rundschau, dass 12-18 (!) grippale Infekte bei Kita-Kindern angeblich völlig im Normbereich liegen. "Lassen Sie mal die Kuhmilch weg", riet der Kinderarzt. Es folgten zahlreiche Ausflüge in die Reformhäuser und Bio-Läden unserer Stadt auf der Suche nach dem besten Ersatzprodukt für das geliebte morgendliche Milchfläschchen. Hafer, Soja, Mandel, Lupine, Laktosefrei etc. – ich kannte mich mit Alternativprodukten besser aus als die Hipster-Mamas bei ihrer allmorgendlichen exotischen Latte-Machiato-Bestellung. Besser wurde die Haut nicht. Nur die Spannung zu Hause nahm zu. "Schmeckt nicht!", "Ich will nicht cremen!", "Au, das tut weh!" hörten wir jetzt immer öfter. Auch der bittere und schmerzliche Verzicht auf andere Lebensmittel führte nicht zum gewünschten Erfolg.

 "Haben sie oder ihr Mann eigentlich Neurodermitis?", fragte irgendwann der Kinderarzt. "Neuro-wie? Äh, nein", antworte ich gedankenverloren, insgeheim vielleicht sogar denkend: 'Sehe ich aus, als wäre ich psychisch nicht ganz knusprig, labil und depressiv? Habe ich Furunkel im Gesicht, oder was soll die Frage?! Natürlich habe ich keine Neurodermitis!'.

Ganz ehrlich – ich wusste gar nichts über Neurodermitis, Asthma oder Atopie damals. Null. Und auch wenn ich mich heute noch oft so fühle, als hätte ich gerade mal die Spitze des Eisbergs erklommen, so muss ich fast schmunzeln darüber, wie unbeholfen ich damals war. Gut, ich verstand also: der Große hat Neurodermitis, ja nun, aber das lässt sich doch sicher heilen – oder? So schlimm kann das ja alles nicht sein, die Neurodermitis werden wir jawohl auch noch in unser viel zu oft recht durchgetaktete Leben quetschen können. Es folgten die ersten Testverfahren, Blutabnahmen. Salbungen. Was passierte? Wenig Neues. Erfolg wollte sich nicht einstellen, weder an der Huste- noch an der Kratzefront. Die Nächte wurden kürzer, Infekte, Entzündungen und Wutausbrüche an allen Fronten häuften sich. Noch lange hat es gedauert bis wir überhaupt einen Zusammenhang zwischen Haut und Lunge erkannt haben. Ganz ehrlich: dieses Wechselspiel zwischen entzündeter Haut und Bronchitis fiel uns noch nicht mal groß auf in all dem Stress! Wir sahen den (atopischen) Wald vor lauter Bäumen nicht. Bis dato hielten wir die Lungen- und Hautschwäche unseres Kratzekindes schlichtweg für Zufall, "Bad Luck" oder ein Ergebnis seines schwachen Immunssytems. "Der lässt beim Mittagessen auch immer alles Grüne links liegen", erklärte mir einmal eine Erzieherin –Mangelernährung? Falsche Erziehung? "Die Haut ist ja immer der Spiegel der Seele", belehrte mich eines anderen Tages ungefragt (!) eine fremde Frau auf dem Spielplatz mit Blick auf die geschundenen Fingerchen meines Kindes. Boom! Mein Lieblinsspruch. Ein psychisch labiles Kind? Erst wenige Jahre Mutter und schon alles falsch gemacht? Gescheitert? Mit wie vielen selbst- und fremdverschuldeten Vorwürfen ich oft ins Bett ging, ein Irrsinn.

Die ersten Hautärzte wurden parallel zum Kinderarzt ab dem 3. Lebensjahr konsultiert, teilweise auf Empfehlung, teilweise frei nach der Devise: "ich-google-mal-drauf-los-und-schaue-wen-es-da-so-gibt". Learning für mich: ein wirklich guter Kinderarzt mit Atopie-Erfahrung bzw. ein ganzheitlich ausgerichteter Haut- oder Lungenfachmann für Kinder (!) ist wirklich schwer zu finden. Hier empfehle ich, sich definitiv nicht nur im Netz zu informieren, sondern erfahrene Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen für betroffene Eltern (oft an Kinder- und Spezialkliniken angeschlossen, ggf. auch Vereine) zu kontaktieren. Deren Erfahrung ist wirklich Gold wert. Leider waren wir damals noch nicht so weit. Zahlreiche Stippvisiten bei Ärzten nach dem "Zufallsprinzip" und abermalige Produkttests folgten. Ergebnis? Weiterhin ausbleibender, nachhaltiger Erfolg.

 

Markenprodukte, Neurodermitis & Kinderhaut – ein Exkurs

Manchmal frage ich mich, welcher Zusammenhang zwischen Pharmaunternehmen und der Haut unserer Kinder besteht. Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin (Nein! Niemals!), aber ein mulmiges Gefühl stellte sich irgendwann schon ein, nachdem uns mehrere Hautärzte wiederholt Produkte z.B. der Marken Avéne und Eucerin empfahlen, statt z.B. kostengünstige Schwarzteewickel oder Basispflege als "Key Learnings" zu vermitteln. Zufall? Liegt es an der vermeintlich hohen Qualität dieser kostenintensiveren 'Dermo-Cosmetics'*, oder warum sollten wir diese auf der hoch empfindlichen und irritierten Kinderhaut testen? Diverse Produkte dieser und ähnlicher bekannter Marken halfen zumindest auf der Kinderhaut unseres damals 3- bzw. 4-jährigen Sohnes nicht. Im Gegenteil. Die Haut schmerzte, juckte, rötete mehr denn je, die Produkte waren teilweise parfümiert etc. Urteil: absolut unbrauchbar - für uns zumindest (zu einem ähnlichen Urteil kam wiederholt übrigens Ökotest, da selbst in Cremes für "empfindliche" und für "allergiegestresste" Haut dieser und anderer Marken Duftstoffe, Polyethylenglykole-Derivate, Konservierungsstoffe wie zB Chlorphenesin oder Aluminium-Starch-Octenylsuccinat in Teilen nachgewiesen werden konnten). Ohne verallgemeinern zu wollen, drängt sich doch manches Mal die Frage auf: Welchen Einfluss hat die Industrie auf die (Haut-)Ärzteschaft? Hinter Avéne verbirgt sich beispielsweise Pierre-Fabre, ein multinationales Pharmazie- und Kosmetik-Unternehmen mit 2 Mrd. € Umsatz; die Marke und Produktreihe "Eucerin" wird z.B. von Beiersdorf produziert mit einem jährlichen Umsatz von ca. 7 Mrd. €. Laut Recherchen des "Spiegel" erhielten allein in 2015 über 70.000 Ärzte in Deutschland Zuwendungen aus der Pharmaindustrie (insgesamt fast 600 Millionen €). Ohne hier einem Generalverdacht die Bühne zu bieten: Da gruselt's einem schon gewaltig. Obacht ist geboten. Und dennoch gilt auch hier: was für die eine Haut nicht funktioniert, muss für die andere nicht schlecht sein. Das ist ja gerade die Tücke bei der Behandlung atopischer Krankheiten.

 

"Mama, ich glaub', wir müssen jetzt ins Krankenhaus"

Zurück zum Kratzekind: Es folgten trotz Behandlung mit bunter Produktpalette (Neuroderm, Linola, Cortison  - an dezidierten Stellen bzw. zur Inhalation - neben Salbutamol, Hustensäften etc.) erste Abstecher in die Uniklinik und ins Kinderkrankenhaus, gehäuft kam es nun auch zur schweren Bronchitis. Ich erinnere mich noch wie heute an die zarte, bedeckte Stimme meines dreijährigen Sohnes; nachts um 2h stand er wie aus dem Nichts neben meinem Bett, bleich wie Kreide und flüsterte (damit er seinen kleinen Bruder nicht aufweckte): "Mama, ich glaub', wir müssen jetzt ins Krankenhaus". Ich war über Nacht alleine mit beiden Kindern, Raupe war noch ein Säugling, es nützte nichts. Ab zur Notaufnahme. Uniklinik. Warten unterm Neonlicht. Um 7h dann die Diagnose: Lungenentzündung. Das war der 1. Wake up-Call – das konnte doch nicht 'normal' sein?! Ab dem Zeitpunkt kam es immer wieder zu kurzzeitigen Verbesserungen, dann wieder zu ruckartigen Verschlechterungen der Lunge. Über Monate gehörten tägliche Inhalationssitzungen zum Familienalltag (übrigens: ein Baby oder einen kleinen "Wibbelstitz" von drei, vier Jahren täglich ggf. sogar mehrfach an ein lautstarkes, dampfendes, puffendes, futuristisch aussehendes Inhalationsgerät anzuschließen - allein für die dafür notwendigen Überzeugungskünste verdienen Kratzekind-Eltern aus meiner Sicht jegliche Innovations- und Kreativitätspreise der Republik!).  Der 2. Wake up-Call war die Superinfektion mit hohem Fieber und flächendeckender Hautentzündung mit Herpes. Bronchitis inklusive. So konnte es nicht weitergehen. "Waren Sie schon bei der Elternschulung in unserem Haus?", fragte mich bei einer 'Stippvisite' in der Notfallaufnahme (abermaliger Pneumonie-Verdacht) eine Ärztin. Elternschulung? Brauchen wir das? So absurd es klingt aber: Betroffene Eltern fühlen sich durch den Vorschlag gegebenenfalls schnell angegriffen nach dem Motto: 'meint ihr, wir sitzen tatenlos rum, und wissen nicht, was wir tun'? Im Nachhinein muss ich gestehen: Ja, trotz all unserer Bemühungen, wir wussten nicht wirklich, was wir tun.

 

Auswechslung und Neustart

Die Elternschulung über mehrere Monate hinweg war eine Wohltat für Verstand und Seele – endlich eine ganzheitliche Betrachtung der Erkrankung. Endlich Begreifen. Endlich Verständnis. Jeder betroffenen Familie rate ich mit Nachdruck dazu. Im Zuge dessen und auf Empfehlung des versierten Personals im Rahmen der Schulung tauschten wir (noch) einmal unser "Ärzteteam" aus. Das ist ein gutes Jahr her. Seitdem ist vieles (etwas) besser geworden. Vor allem aber sind wir besser geworden, im Umgang mit unserem Kind und mit den atopischen Erkrankungen. Natürlich ist das nicht der Anfang vom Ende. Das Kratzemonster schläft nicht. Es verzieht sich zwar ab und an und schmollt. Aber es ist ein steter Begleiter geworden, den wir alle versuchen anzunehmen. Es kann ja schließlich auch nicht 'aus seiner Haut'.

Der Hustefuchs ist aktuell dank entzündungshemmender Langzeitmedikation im "künstlichen Winterschlaf". Noch. Es geht immer weiter. Auch jetzt. Jede Kratzefamilie hat ihre eigene Geschichte. In der Schulung habe ich aber auch gelernt, mir nichts vorzuwerfen. Nachher ist man immer schlauer. Wir sind dabei, die Erkrankung unseres Kratzekindes jeden Tag ein Stückchen besser zu verstehen. Wir sind gerade erst richtig gestartet. Aber immerhin tappen wir nicht mehr im Dunkeln der Höhle und versuchen im Licht des Feuers Schatten zu deuten. Transparenz, Austausch und ein klitzekleines bisschen mehr Durchblick geben uns mehr Sicherheit und Gelassenheit. Nicht immer. Aber öfter als noch vor einem Jahr. Auf geht's.

 

* Mit 'Dermo-Cosmetics' bezeichnet z.B. Pierre-Fabre seine eigene Produktreihe der Marke 'Avéne' auf seiner Homepage.


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