Kratzekind

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Vor dem nächsten Schub - Willkommen Hoffnung! Hallo Angst.

Fast jede Nacht reißt sie mich aus dem Schlaf - die Angst vor dem nächsten Schub.

So auch heute. Dann bin ich auf einmal hellwach, starre an die Decke und denke: wie lange geht das noch gut? Wann ist es wieder soweit? Wo lauert die nächste Trigger-Attacke, die die Haut unseres Kratzekindes in die äußere Hülle eines Greisen verwandelt, porös und rissig wie Pergamentpapier; eine Haut, die bei jeder falschen (oder richtigen!) Bewegung juckt, kratzt, aufplatzt, einreißt, schuppt, verdickt, blutet, aufflammt, schmerzt?

Auch wenn ich gerade von Glück sagen kann, dass die Haut unseres Kratzekindes aktuell richtig gut ausschaut, gerade so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte – was, wenn der Schein trügt? Was, wenn es unter ihrer rosigen, weichen Oberfläche schon wieder brodelt und wir kurz vor einem Vulkanausbruch stehen? Dieses Unbehagen treibt mich um und bereitet mir mitunter schlaflose Nächte.

Am Tag sind diese Sorgen meist wie weggeblasen. Ich genieße das laute Glucksen und verschmitzte Kichern unseres Kratzekindes, beobachte ihn wie er ins Spiel mit seinem kleinen Bruder ‚Raupe’ eintaucht und die Zeit vergisst, höre zu, wie sie gemeinsam je nach Lust und Laune wahlweise als Steinadler, Leoparden oder Eisbären laut rufend oder brüllend ums Haus streunern, beobachte, wie sich unser Großer seine Freiheit Meter für Meter (zurück)erkämpft als ob ihm Flügel wüchsen, wie er tagtäglich an Selbstbewusstsein gewinnt.

Mama, Du hast einmal gesagt, jeder Mensch hat eine klitzekleine Schwäche oder irgendein Päckchen zu tragen – aber schau, ich hab gar kein Päckchen mehr, die Neuronervitis ist futsch!“ Stolz schaut er an sich herunter: Wenn man von Narben und dem für Neurodermitiker typisch fleckigen Hautbild absieht – die Haut könnte zarter kaum sein. Seine Hoffnung wächst – sollte ich sie ihm wirklich nehmen? Realistisch betrachtet: ja. Er ist chronisch krank. Seit drei Wochen ist unser Kratzekind symptomfrei - wow! Wer bitte ist da so naiv und lässt einen Hoffnungsschimmer zu?! Wohin sollte die Atopie denn bitteschön auswandern? Und doch: ich bringe es nicht übers Herz eine vernünftige Antwort zu geben. Zumal: So eine wohl hydrierte Haut habe ich an meinem Kind schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

Was macht diese Haut, dieses 'gesunde' Lebensgefühl mit ihm, wenn auch nur für eine kurze Zeit? Er erscheint viel ausgeglichener, ruhiger, besonnener, ja, man kann sagen: unbeschwerter. Ein fröhlicheres Kind, rundum! Bilde ich mir diese leichte Gemütsverschiebung ein? Hängt sie tatsächlich mit dem Hautzustand zusammen? Hoffnung macht sich auch bei mir breit – was, wenn unser Kind doch zu den wenigen ‚gesegneten’ kleinen Patienten gehört, bei denen die Erkrankung tatsächlich nachgewiesenermaßen abebbt oder gar verschwindet? Grenzt der Gedanke schon an Übermut? Wir befinden uns offensichtlich in einem Haut-Hoch, das beflügelt. Uns alle.

Über Jahre dominierten die Tiefs. In Schubzeiten wirkt unser Großer oftmals mitunter fahrig, missmutig, nervös; dann wieder aufbrausend, überdreht, im nächsten Moment selbstzweifelnd, betrübt, niedergeschlagen, zuweilen auch hektisch, sprunghaft, launisch, zornig. Bitte nicht falsch verstehen: mein Kratzekind hat 10.000 positive Attribute und Charakterzüge aber im sich anbahnenden oder akuten Schub kommt es mir manchmal so vor, als lege sich eine hauchdünne Nebeldecke über sein Gemüt und sein dem Grunde nach so offenherziges, empathisches, sensibles und liebenswertes Wesen. Ich will nicht, dass die Atopie die Macht hat, unsere kleine Welt ins Ungleichgewicht zu stürzen. Aber was ich will und was nicht ist wurscht: Fakt ist, ihr Einfluss auf das Wohl unserer Familie ist im Mindesten signifikant, alles andere wäre Augenwischerei.

Düster erinnere ich mich an den letzten Schub. Einen Tag vorher war noch ‚alles gut’. Über Nacht und schier aus dem Nichts explodierte die Haut, als ob sich ein plätschernder Bach binnen Stunden in ausgetrocknetes Ödland verwandelt. Zeiten der Dürre sind Zeiten des Zorns…Vor sechs Wochen klang der Schub ab, die schuppige und rissige Trockenheit der Haut wich endlich einem weichen, zarten Rosa-Farbton.

Und so ist auch jetzt wieder ‚alles gut’. Der akute Behandlungsplan ist übersichtlich geworden: keine Corticoide, Antibiotika, Immunsuppressiva, oralen oder inhalativen Preventer & Reliever, keine Wickel, Wundwässerchen, Globuli oder Heilerden, Kräuterpasten, Salben und Bäder und vor allen Dingen: kein ständiges Gerede mehr über die Neurodermitis! Zum ersten Mal (seit Jahren!) haben wir in Absprache mit dem behandelnden Arzt die Medikation und Pflege langsam heruntergefahren und cremen aktuell sogar nur noch 1x am Tag mit der Basispflege – that’s it. Dieser status quo reduziert den innerfamiliären Stress enorm (Kostprobe aus dem üblichen Creme-Alltag mit einem wütenden 5-jährigen Atopiker gefällig? Gern! „Diese verdammten Kack-Cremes, haut ab, ich creme mich nieeee wieder ein! Ich schmeiße diese stinkigen Tuben jetzt aus dem Fenster! Warum ich? Ich hasse mich. Ich hasse Dich. Ich hasse alles! Wuassefoxi’*!“).

Die Reduktion der Creme-Einheiten nimmt zudem Druck raus und erhöht die Kooperationsbereitschaft unseres Kratzekindes immens. Er ist motiviert. Spürt selbst die positive Veränderung. Das Eincremen einer ‚gesunden’ Haut birgt nicht die Gefahr des Juckens, Beißens, Brennens – das hat auch unser Kratzekind längst verstanden und steht damit in der Regel der Behandlung gelassener gegenüber (keine Sorge – es gibt immernoch zahlreiche Ausnahmen zur Regel!). Die Haut ist aktuell – wie man so schön sagt – stabil. Und so konnten ihr in den letzten Wochen z.B. weder eine in der Not benutzte ‚normale’ 0815-Sonnencreme (kein Witz!), ein (wiederholter!) Besuch im Fastfood-Restaurant (Weißmehl, Fertigprodukte?! – No way!)‚ noch die vereinzelt außer Haus verwendete ‚Industrieseife’ an den Händen (OMG!) nichts anhaben. Wie lange noch?

Langsam werden mir die Augen schwerer. Ich beruhige mich. Meine Angst weicht der Müdigkeit aber auch der Dankbarkeit für den Moment, für die ‚Anti-Schub’-Phase, für das Hier und Jetzt. Egal wie Haut oder Lunge morgen ausschauen, egal was für Pläne die Atopie schon für uns gemacht hat – wir sollten den Augenblick genießen –  bevor wir ihn aus lauter Sorge und Angst um unser Kind verpassen. Und wenn doch morgen schon diese Oase der Ruhe vorbei sein sollte, wenn die Elefantenhaut wieder Arme und Hände besiedelt, die Kratzattacken uns den Schlaf rauben? Pffff. Dann werden wir auch das packen. Ich richte mein Krönchen und sage mir: nach dem Schub ist vor dem Schub. Das ist das Leben einer Kratzemama. Und über den Rest kann ich mir dann Gedanken machen, wenn es wieder Zeit für die Kack-Creme ist.

 

 

 

 

* Wer diese Wortadaption/-kreation unseres kleinen Revolutzers blitzartig ableiten kann, der ist offenkundig auch big im Haut-Aggro-Business :-) Auf wiederholte Nachfrage zur Bedeutung der selbigen habe ich ihm gesagt, es handle sich um eine im angloamerikanischen Raum übliche Redewendung, die übersetzt werden kann mit: 'Wo ist der dämliche Fuchs?!’….Ähm…oder so ähnlich ;-)