Kratzekind

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Hallo Baby! Hallo Neurodermitis?!

Erst einmal ein dickes "Sorry!" dafür, dass es in den letzten Wochen auf der Kratzkind-Seite etwas ruhiger gewesen ist. Wieso-Weshalb-Warum? 

Wie dem ein oder anderen vielleicht nicht entgangen ist, bin ich hochschwanger... GEWESEN! Denn unser Mini-Mäuseken ist vor 12 Tagen auf die Welt gekommen. Juhu, endlich! Ein kleiner Kanadier (schließlich sind wir seit 12 Monaten auf Reisen und aktuell in Kanada)! Wir sind alle total schockverliebt; dieser Babygeruch, dieses zufriedene Gurgeln, diese wilde 80er-VoKuHiLa-Frisur mit Wasserstoff-blonden Strähnen ;-) 

Wie Ihr Euch vorstellen könnt, waren die letzten Wochen dementsprechend turbulent. Wann kommt das Baby denn nun? Schaffen wir es rechtzeitig ins 2h entfernte Krankenhaus oder muss der Helikopter kommen und mich ausfliegen - was hier ein realistisches Szenario ist, da die einzige Zugangsstraße zum nächsten Ort mit medizinischer Vollversorgung nachts oft gesperrt ist? Bis hin zu banalen Fragen wie: kann eine nahezu 100%ige Ernährung aus Kohlenhydraten und Milchprodukten inklusive zwei Pakete Butterkekse und eine Liter-Packung Vanilleeis pro Tag einen Zuckerschock in der Schwangerschaft auslösen?! Jetzt ist der kleine Vogel endlich da und die pränatale, innere Unruhe weicht der postnatalen Erschöpfung und Zufriedenheit. Und da die Minnie Maus bislang eh fast nur pennt, ist wieder etwas mehr Zeit fürs Schreiben vorhanden. Mehr Kinder = mehr Zeit?! Wer hätte das gedacht!

Stereotypischer Gender-Quatsch-Käse

Also nun drei Jungs. Ich bin anscheinend einfach nicht für Mädels gemacht: Mit Kratzekind + Raupe + Mäuseken + Mann + Hund (Wolfgang) steht es in unserer Familie 1:5 in Sachen Gender Balance. Manchmal bekam ich in der Schwangerschaft Kommentare wie diese hier zu hören:„Ach herrje, wieder ein Junge. Na vielleicht klappt’s beim nächsten Mal.“ oder „Und? Warst Du SEHR enttäuscht als Du es erfahren hast?“ oder (ganz groß!): „Dann kannst Du ja wenigstens die alten Klamotten noch auftragen und musst nicht alles neu kaufen.

Hallo?!? Am Besten, ich freu mich noch darüber, dass ich immerhin nicht schon anfangen muss, die Mitgift zusammenzustellen. An vielen Fronten fragt man sich doch aktuell: in welcher Backlash-Zeit leben wir bitte, Zurück-in-die-Zukunft-Teil-1960? Wenn ich heutzutage (wieder!) rosa Überraschungseier oder Spielzeugabteilungen sehe, die sich in Jungs- und Mädelsregale aufteilen, stellen sich mir die Nackenhaare hoch. Mensch, da waren wir doch schon mal einen Schritt weiter, warum geht’s in letzter Zeit gefühlt wieder zwei Schritte zurück?! Ob Junge, Mädchen oder was dazwischen - in erster Linie sind sie primär zauberhafte Wesen, denen wir alle Möglichkeit bieten sollten, sich so frei wie möglich zu entfalten, unabhängig von Gender-Scheuklappen. Die Lieblingsfarbe unseres Zweitgeborenen ist Rosa. Hilfe! schreien da schon die Ewiggestrigen. Aber nur keine Sorge, er liebt Fußball, will Torwart werden (Puh, Glück gehabt!). Aber (Achtung!) er mag bunte Haarspangen. Feen findet er cooler als Drachen (Oh je!). Und er liebt seine Puppe mindestens genauso sehr wie seine Matchbox-Autos. So what!? Auch das Kratzekind fragt mich ungläubig, warum in so vielen Hörspielen nur die Mädchen auf den Pferden sitzen, dabei liebe er doch Pferde über alles und wünscht sich nichts sehnlicher als ein Pony. Und jetzt? Is' doch alles schnuppe. Das Geschlecht ist (schon) bei Kindern so vollkommen überbewertet und symbolisch aufgeladen. Als ob Charakter lediglich oder zumindest hauptsächlich durch ein lächerliches X oder Y Chromosom definiert wird.

Wenn ich meine beiden „Großen“ (4 und 6) anschaue: der eine voller schier unzähmbarer Energie, leidenschaftlich, zerbrechlich im Inneren doch nach Außen hart im Nehmen, kaum öffentlich eine Träne weinend (dafür im Verborgenen!) aber Angst vor kleinsten Krebsen ("Ihhh! Raupe, fang Du den!"), keinen Trost zulassend, wild wie der Ozean, ein Outdoor-Kind durch und durch, stark und verletzlich zugleich, ein mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Haudegen, extrem gerecht und sozial und doch oft unbeholfen und überfordert im direkten, sozialen Kontakt; selbstbewusst und mutig, wenn es um seine Verschmelzung mit der Natur geht - er ist wie der Rilke'sche Panther, ihn kann man nicht einsperren - und: er ist ein Kratzekind.

Und der Zweite, unsere Raupe? Der Feingeist und Feinmotoriker, der Zarte & Zärtliche, derjenige, der mit seinem Lachen alle in seinen Bann zieht, der Vorsichtige, Filigrane, Feingliedrige. Der auch gern mal zu Hause bleibt, wenn’s draußen stürmt, es tröpfelt oder die Wellen zu hoch sind; dafür aber stundenlang Fußball spielt, alleine übt, malt und agiert, in sich ruhend; der ohne mit der Wimper zu zucken noch so eklige Tiere anfasst, sich dafür aber sehr erschreckt, sobald jemand laut wird; der, der emphatisch ist und erfühlt, wenn es einem von uns schlecht geht. Ein Sonnenkind. Ohne chronische Erkrankungen. Diese beiden Jungs könnten in vielerlei Hinsicht unterschiedlicher kaum sein. Fernab von der Bipolarität von Team Rosa vs. Team Blau. Und doch ergänzen sie sich phänomenal, haben Stärken und Schwächen des Anderen im Detail kennen- und schätzen gelernt auf unserer nunmehr einjährigen Reise durch die Welt.

Baby und Neurodermitis? Bitte nicht schon wieder!

Und wer oder was wird nun Numero 3, unser kanadischer Wildfang? Welche Rolle(n) wird diese Minnie Maus einnehmen in unserer Familie? Welche weißen Flecken lassen ihm die beiden Großen auf der Landkarte der Eigenschaften? Was halten die Gene für ihn bereit und wie wird ihn die Umwelt prägen? Auch gesundheitlich?

Seit knapp zwei Wochen ist er nun Teil unserer Familie. Die „Eingewöhnung“ läuft bislang erstaunlich gut - von allen Seiten. Raupe und das Kratzekind nennen ihren kleinen Bruder jetzt liebevoll „die Pupskanone“. „Der macht ja nix außer pupsen, chillen und saufen“, sagte unser Kratzekind betont gelangweilt vor einigen Tagen. Ähm. Ja. Und doch ist der neueste Familienzuwachs spannend für die Großen. Die kleinen Fingerchen, der weiche blonde Haarschopf, das glückselige Schnorcheln und Schnarchen nach dem Stillen. Alles wird genauestens beäugt, begutachtet und kommentiert. Insbesondere unser Kratzekind ist höchst interessiert an dem Neuling. Und so hallte es vor einigen Tagen lautstark durchs Haus: „Ihr glaubt es nicht - die Pupskanone hat auch Neurodermitis!“ 

Unser Mäuseken war tatsächlich direkt am 3. Tag auf Erden von oben bis unten mit roten Pusteln bedeckt. Neurodermitis?! Bitte nicht! Erinnerungen breiten sich feuerwerksartig in meinem Kopf aus. Alles macht Peng. Panisch rief ich die Hebamme an, bat um Rückruf, schickte ihr zahlreiche Bilder. Unruhe. Bangen. Dann der Rückruf. Entwarnung. Nein, nein, das sei doch ganz normal, das Baby gewöhne sich lediglich an die neuen Einflüsse, an Luft, Bakterien, Sonne, Temperaturen. Das seien ganz natürliche Adaptionsprozesse, kein Grund zur Panik. Bei Geburt sind die Schutzmechanismen der Haut eben noch nicht voll und ganz ausgereift. Puh, Glück gehabt. Auch unser Kratzekind ist derzeit schubfrei - das milde Klima an der kanadischen Westküste bekommt seiner Haut extrem gut. 

Schon ein paar Tage später ertönt es wieder in ohrenbetäubender Lautstärke: „Und er hat DOCH Neurodermitis!“ Ich rase wieder zum Babybettchen. Weiße Pusteln im Gesicht. Hm…lieber nochmal die kanadische Hebamme belästigen mit zahlreichen Fotos und Nachrichten. Abermals Entwarnung. Das sei doch nur die Neugeborenen-Akne (Milien). Gaaaaanz normal. „Das ist doch Ihr 3. Kind, das müssten Sie doch alles kennen.“ Ähm. Ja. Sicher. Ist aber alles gefühlt 100 Jahre her und in Sachen Haut bin ich als Kratzemama - leider - traumatisiert. Aber stimmt, die Milien hatte unser Kratzekind auch. Damals konnten wir noch nicht ahnen, wie uns seine Haut einmal auf Trab halten würde. Die Milien, ein schlechtes Omen? Nein, komm runter, denke ich. Is' doch Käse.

Gestern höre ich unser Kratzekind abermals schreien: „Ich sag’s doch, Pupskanone hat auch diese beknackte Neurodermitis!“ Wieviel Zeit er sich nimmt, unser Baby immer wieder im Detail tagtäglich zu begutachten! Wieder spurte ich die Treppen hinauf an die Wiege. Autsch. Der Unterleib zwickt und zwackt. Treppen hochrasen ist noch nichts für ‚Wöchnerinnen’ (BTW: was ist das für ein fieser Ausdruck bitte!?). So, jetzt zur Hautinspektion. Aha! Also doch! Die Haut schuppte sich. Kein Zweifel. In der Tat hing sie wortwörtlich in kleinsten Fetzen an den Miniatur-Handgelenken. Mir war das zwischen Wochenbett und Wickeln, Abendessen und Aufräumen, zwischen Schlafen, Spielen und Stillen noch gar nicht aufgefallen (Rabenmutter!) aber unser Kratzekind hatte eindeutig Recht. Normal sah das nicht aus und ich konnte mich auch wirklich nicht daran erinnern, solche Hautfetzen auch bei den anderen beiden kurz nach der Geburt gesehen zu haben, selbst beim Kratzekind nicht. Aber das heißt nichts, dachte ich, damals hatte ich dafür ja auch noch kein Auge. Neurodermitis ist eine Reise und meist weiß man nicht genau, wann  sie eigentlich losgegangen ist. Wir zogen das 11 Tage alte Mäusekind nackidei aus und fanden auch auf dem Bauch die sich schuppende Haut wieder, fast spröde, rissig, wie Sonnenbrand-pellende Partikel aber ohne Röte und Bläschen. Also tatsächlich jetzt schon erste Anzeichen der Neurodermitis!? Noch ein Kratzekind? Noch ein Kind durch diesen Leidensprozess begleiten? Ich sage immer wieder: es gibt zahlreiche Dinge, die objektiv sicher bedrohlicher und zermürbender sind als eine chronische Erkrankung wie Atopie….Aber es gibt auch gesunde Kinder. Wie einfach das Leben mit einem gesunden Kind sein kann, ohne Medikation, ohne Ungewissheit, ohne Schmerzen und ohne den alltäglichen Kampf weiss ich spätestens seit Raupe auf der Welt ist. Es ist eine Welt dazwischen. 

Wieder wählen wir die Nummer der Hebamme und senden ihr ein Dutzend Bilder. Sind Hebammen eigentlich die einzigen Menschen auf diesem Planeten, die noch die vorchristlichen ‚Pager‘ benutzen?! Zum Glück erfolgt der Rückruf bevor ich mir die Finger wundgegoogelt habe. Kein Grund zur Sorge, das seien keine Anzeichen für Neurodermitis, sagt sie. Viele Babys pellen sich einige Tage nach der Geburt. Aber die trockenen Partien weichen bald wieder zarter, weicher Babyhaut, lerne ich. Es bedarf keinerlei Öle, Cremes oder anderweitiger Behandlung. Alles ganz normal. Fehlalarm.

Ich bin froh, erleichtert. Und unser Kratzekind? Er kann einen Hauch der Enttäuschung nicht verbergen. Bei jedem Aufschrei klang auch ein wenig Hoffnung mit: Endlich nicht mehr der Einzige zu sein. Der Unverstandene. Der Nicht-Normale. Der, der anders ist. 

Jeden Abend sage ich den Kindern, dass sie aus 1000 Gründen anders sind als Andere; dass es okay ist, ein Glühwürmchen im Mottenschwarm zu sein; und dass die Kratzemonster und Hustefüchse zwar nervige Statisten seien aber auch das Kratzekind immer noch die Hauptrolle in seinem Film des Lebens spiele. Ich hoffe, die Botschaft kommt an, irgendwann.