Kratzekind

View Original

Frohe Ostern - vom anderen Ende der Welt

Ein paar Wochen ist es her, dass ich den letzten Blog-Post zum Neurodermitis Spiegel-Artikel veröffentlichte - Entschuldigt bitte die Verspätung. Ich vermute, dass ich in schubfreien Zeiten versuche, die Erkrankung schlichtweg zu ignorieren; und dazu gehört auch den Gedanken an Neurodermitis wegzuschieben, nicht darüber nachzudenken, geschweige denn zu schreiben. Als ob ich mit den Jahren abergläubig werden würde: Bloß keine schlafenden Hunde wecken! Oder einfach wieder so tun, als wär doch alles Bestens! 

Weniger ist mehr

Dabei ist ja auch eigentlich alles Bestens. Seit 8 Monaten sind wir nun Nomaden. Reisende. Weltenbummler. Und sind immer noch hellauf begeistert vom Leben als Vagabunden-Familie, alle Vier. Oft werde ich gefragt: "Vermissen die Kinder denn nicht ihr zu Hause?" Um ehrlich zu sein: Nein, den Eindruck haben wir nicht. Sie fragen von sich aus fast nie nach der Heimat, den Daheimgebliebenen, ihrem zu Hause - außer wir Erwachsenen pushen das Thema. Ihr Blick geht meist weder nach vorn noch zurück. Sie leben im Hier und Jetzt. Und das ist so wunderbar! Sie tauchen ein in jedwede neue Umwelt, die sich ihnen auftut. Ihre wenigen abgenutzten Playmobil-Figuren und -Pferde galoppieren überall entlang: ob an den Stränden Neuseelands oder in der Atacama-Wüste im Norden Chiles, das ist denen doch völlig Schnuppe! Wenn unsere dreijährige Raupe fragt "Wann sind wir zu Hause?", dann meint er mit zu Hause lediglich unseren aktuellen Standort, unser Schneckenhaus: sei es eine Blockhütte, ein Hotelzimmer oder ein Bauernhof. Heimat ist kein Ort, kein Heim, sondern ein Gefühl von Heimeligkeit, Gemütlichkeit, Gemeinschaft. Zu Hause ist für ihn da, wo wir Vier uns lockermachen und zur Ruhe kommen. 

Die Interessen der Kinder haben sich ebenfalls verschoben. Das mitunter stressige Leben im hippen Zentrum einer Großstadt wurde auf Zeit weitestgehend eingetauscht für ein Dasein auf dem Lande in fremden Kulturen und Staaten. Sie interessieren sich aktuell für die Flugmanöver von Adler und Kondor, fürs Angeln, Wale, Pferde, Pumas, Skorpione, indigene Völker. Das Sein bestimmt eben das Bewusstsein. Nix Neues und doch spannend zu sehen wie rasant diese Entwicklung doch ist. 

Da die Garderobe für jedes Kind lediglich Regenkleidung, Fleecejacke, 4 T-Shirts, 2 Long-Sleeves, 3 lange und 2 kurze Hosen sowie Socken und Unterwäsche für eine Woche umfasst, sind von Beginn an Diskussionen am Morgen zum gewünschten Kleidungsstück hinfällig geworden. Was war das nervig früher! Dieses Trikot! Nein, dieser Pullover! Kleidung ist hier ein reiner Funktionsgegenstand geworden. Die Kinder lernen auch sonst mit sehr wenig auszukommen. Und damit zufrieden zu sein. Die wenigen Spielsachen (jeder hat einen kleinen Rucksack dabei) werden von den beiden kleinen Weltenbummlern extrem geschätzt; die UNO-Karten sind abgewetzt und werden doch liebevoll gepflegt, ein Malblock wird bis zum letzten Blatt ausgereizt, Playmobil-Hände und -Füsse müssen mühsam angeklebt werden (scheitert regelmässig!), die Kappen der Filzstifte fliegen nicht mehr im Raum herum, sondern werden sorgfältig wieder aufgesetzt - jeder Verlust wäre schmerzhaft und auf Reisen nur schwer verzeihlich. Steine, Gräser, Strandgut, Stöcke, Blüten, Sperrmüll - alles wird ins Spiel eingebunden. "Wenn ich groß bin, dann werde ich Farmer in Canada. Ich habe Kühe und Pferde und acht Hühner. Und wenn ich Dich besuche, bringe ich Dir immer eine Überraschung von meinem Hof mit", verkündete mir unser Kratzekind letzte Woche. Der (zivilisatorische) Traum vom Fussballprofi oder wahlweise Astronauten wird also aktuell auf Eis gelegt und gegen den vom  Landwirt eingetauscht. Auch gut. Hauptsache glücklich. 

Nun sind wir also im wilden Patagonien fast am untersten Zipfel Chiles angekommen, fast am Ende der Welt, denn viel näher kommt man dem Südpol nicht. Wir wohnen aktuell auf einer Estancia, einem Landgut (s. Foto) am Rande des zum 8. Weltwunder gekürten und mit Gletschern und glasklaren Seen gespickten Nationalparks Torres del Paine. Wir befinden uns in der Nebensaison. Touristen trifft man da kaum noch. Unsere Unterkunft ist verwaist. Es ist bereits tiefe Nacht. Draussen pfeift der Wind beinahe in Orkanstärke ums Haus herum, während die Kinder neben mir tief und fest schlafen. Ich wundere mich, dass es nicht zu Stromausfällen kommt - nichts besonderes für uns in den letzten Monaten. Chile ist ungeahnt abwechslungsreich und wild. Es hat vieles zu bieten: Von den Flamingos der Atacama Wüste, der spannenden Historie und lebendigen Kultur des Landes, über die menschenleeren Strände an der Westküste, die Anden, gespickt mit zahlreichen Vulkanen im Osten und die Seenplatte Los Lagos im Zentrum des Landes; bis hin zum Ende der Welt: Patagonien und Feuerland, das mit ewigem Eis, Pinguinen und Seelöwen aufwarten kann. Es ist vielseitig! Auch klimatisch. Eine Herausforderung für das größte Organ des Menschen, die Haut.  

Was macht eigentlich die Haut?

Und die Haut unseres Kratzekindes, wie gehts der eigentlich? Knapp 8 Wochen sind seit dem letzten Schub vergangen. Sechs Monate hatten wir davor vollends auf Kortison verzichten können, dann reagierte die Haut sehr vehement. Ob der Auslöser tatsächlich das extrem heiße australische Klima war oder es an irgendeinem anderen Mosaikteil lag, das nicht stimmte - wir wissen es nicht. Vor einem Monat hatten wir das Kortison wieder vollends ausgeschlichen. Vier Wochen Ruhe seitdem. Heute Morgen wachen wir auf und die Haut unseres Kratzekindes ist rauh und porös. Ich finde 'beiläufig' einige münzgroße Ekzeme oberhalb der Handgelenke, Pusteln in den Armbeugen und unterhalb des Kinns. Es dauert keine 3 Stunden, da reißt die Daumenkuppe auf und blutet. Tagsüber wird gekratzt. Am Abend sehen die Beine fleckig aus. Auch hier könnte der Klimawechsel abermals entscheidend gewesen sein. Und wieder die Frage, die ewig bleibt, so sehr man auch mit den Jahren zur "Fachfrau" wird: Was tun? Wie reagieren? Wir entscheiden uns erst einmal für eine höhere Frequenz in Sachen Basispflege (zurück zu 2x am Tag) und für das Produkt mit dem höheren Fettanteil, denn die Haut ist sehr trocken. Zum Glück hat uns eine gute Freundin, die uns ein Stück des Weges durch Chile begleitete, ordentlich Creme-Nachschub aus Deutschland mitgebracht. 4 Kilogramm! Da ist es wieder, dieses Kratz-Geräusch. Vorbei der feste Schlaf unseres kleinen Patienten. Wie es mit der Haut weitergeht bleibt offen. Ich hoffe, wir kriegen noch die Kurve. Bitte kein Rückfall. Das wäre ein gemeines Ostergeschenk!

Hilfe - fällt der Osterhase aus?

Apropos Geschenk: Ostern steht vor der Tür und ich fühle mich so gar nicht gut vorbereitet. Auch wenn Chile ein christliches Land mit ähnlichen Bräuchen wie denen in Deutschland ist - wir konnten bislang kaum Oster-Deko, -Hasen oder Ähnliches finden, was die Augen unserer Kinder zum Leuchten bringen würde; im Nirgendwo Patagoniens ist es nicht einfach, einen Deal mit dem Osterhasen auszuhandeln. Nur: wie sollen wir das unseren zwei kleinen Gringos erklären? Auch wenn unser Kratzekind 99% der Süssigkeiten eh nicht isst und sie alle im Rachen des geliebten kleinen Bruders landen - das Suchen ist doch der größte Spass. Ich schaue mir auf dem PC die Osterfotos vom letzten Jahr an und sehe die Kinder in einem Meer von Geschenken, Osterhasen und bunten Eiern untergehen. Hm. Das war sicherlich zu viel. Aber von 'zu viel' zu quasi 'nada'?! Ostern ohne Eiersuche? Oh je. Da würden die Kinder doch sehr enttäuscht sein. Ein schlechtes Gewissen überrollt mich. Minimalismus und Konsumkritik hin oder her. Das hätte man doch irgendwie besser auf die Kette kriegen können. Argh. 

Schlagartig fällt mir in dem Moment ein: war da nicht noch tief im Rucksack eine klitzekleine Tüte mit der Aufschrift "Ostern" vergraben, die die Oma in weiser Voraussicht mit in ihr Weihnachtspaket gestopft hatte? Ich wühle im Gepäck und fische tatsächlich ein kleines Päckchen Farbe zur Ostereier-Bemalung und zwei Streichholzschachtel-große, in Osterpapier eingeschlagene Geschenkchen aus der abgegriffenen Tüte heraus. Mehr als ein Playmobil-Huhn oder drei Schokoeier können sich dahinter nicht verbergen aber egal - sensationell! Und zum Glück haben die Kids keine Hühnerei- oder Milchallergie, das heißt: der Eierbemalung und -Suche steht nichts im Wege. Puh! Ich freue mich selbst wie ein Kind und bin erleichtert. Und gerührt. Wie schön, wenn jemand an einen denkt. Auch dieses Gefühl, das mich in diesem Augenblick ausfüllt, ist Heimat, egal ob ganz weit weg oder ganz nah. 

Na, dann kann der Osterhase ja doch noch kommen, wenn auch nur mit leichtem Gepäck - dann ist er wenigstens pünktlich! Frohes Fest Euch allen!