Kratzekind

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"Elternschule" vs. Elternschulung: warum Gelsenkirchen in meinen Augen falsch liegt

So, Ihr Lieben, nach dem Jahrhundert-Sommer folgt(e) jetzt der Herbst des Jahrzehnts oder was ist hier los in Deutschland? Oh Gott, da muss man es ja mit der Angst bekommen, wenn man nur an den vermutlich anstehenden Jahrtausend-Winter denkt! ;-)

Und wie wirkt sich das warme, trockene Wetter auf Lunge und Haut Eurer atopischen Mäusehelden und -heldinnen aus? 

Bei unserem Kratzekind läuft es in Sachen Haut gerade noch verhältnismäßig gut. Die Unterarme und Kniekehlen gerieten in den letzten zwei Tagen etwas unter Beschuss (Wetterumschwung?), sind fleckig, trocken, rot und jucken. Unangenehm sind weiterhin die rauen, aufgeplatzten Fingerkuppen, auf denen mittlerweile in Teilen Verhärtungen und Einschnitte prangen (da mich letztens eine liebe Leserin fragte, was ich da mache: über Nacht verbinde ich die Finger mit einschlägigen Wund- und Heilsalben).

Allerdings sind bei uns allen aktuell die SchleimHÄUTE betroffen, alles schnieft und schnäuzt sich; in allen Ritzen und Ecken finde ich zerknüddelte Taschentücher - und da wir seit 2 Monaten wieder in Deutschland sind (nach einem Jahr auf Reisen), kann mir auch kein Kratzekind weiterhin erzählen, es wisse nicht, wo in dieser Wohnung die Mülleimer sind! Okay, den mittlerweile 3-Monate alten kleinen Kanadier nehme ich in Schutz, hier kann es auch sein, dass seine Mutter im nächtlichen Delirium seine gebrauchten Tücher einfach aus dem Bett ins schwarze Nichts wirft ;-) Raupe, unserer mittlerer Sohn, kommt mit dem Taschentuch noch gar nicht zurecht. Ständig zieht er die Nase hoch. Irgendwann trieb mich das in den Wahnsinn. “Jetzt putz’ dir doch bitte einfach mal die Nase, Raupe”, schnauz' ich ihn an. “Ich weiß aber doch gar nicht wie das geht, Mama”, antwortet er geknickt. Ach, ich Depp - woher auch?! Da er auf Reisen nicht ein einziges Mal krank gewesen ist und folglich seit mindestens 1 1/2 Jahren nicht erkältet war, hat er es natürlich vergessen (oder es gab noch nie die Notwendigkeit zu lernen, ein Taschentuch zu benutzen?!). Wie sehr das Sein unser Handeln und Bewusstsein doch prägt. Schnell zeige ich ihm wie es funktioniert; im Wechsel posaunt Raupe anschließend wie ein Elefant oder pfeift wie ein Vögelchen. Oh je.  Da ist in Sachen Lernkurve noch Luft nach oben. Sobald er aus meinem Sichtfenster verschwunden ist, höre ich wieder wie er die Nase hochzieht - gut Ding will Weile haben.

Unser Kratzekind hatte dagegen die letzte Woche eine virale Kehlkopfentzündung. Immerhin hat er es mit Fassung getragen: “Hurra, stellt Euch vor: der Arzt hat allen Ernstes angeordnet, ich müsse jetzt jeden Tag mehrere Kugeln Eis essen!” Außer viel trinken und schonen kann man leider tatsächlich nicht viel machen. Gegen das nächtliche Fieber hatte das Kratzekind die Fieber senkenden Tabletten natürlich abgelehnt (muss ich erwähnen, dass es selbstredend auch Zäpfchen und Saft ablehnte? Nein, natürlich nicht. Diese Kratzekinder sind medikamentös ganz schön traumatisiert und daher gebe ich mittlerweile wirklich nur etwas, wenn es aus medizinischen Gründen absolut notwendig ist). Also hatten wir ein paar verwuselte Nächte mit wirren, fiebrigen Träumen, Aufwachen und Unruhe hinter uns (keine Sorge, nicht über 39 Grad). Die Folge? Ein klassischer Domino-Effekt: Nr. 1 fiebert oder hustet, wacht auf, ruft mich, weckt damit Nr. 2 (die beiden großen Kuschelhasen bestehen ja seit der Weltreise darauf weiterhin in einem Bett zu schlafen), ich stehe dann senkrecht im Bett, rase los und wecke damit Nr. 3, der neben mir im Bett ebenfalls Schnupfen-bedingt vor sich hin schnorchelt (und ich daher sowieso noch kein Auge zu gemacht habe!). Yay! Partyyyy! - nachts um 3h. Kennt ihr sicher auch gut. Kleine Atopiker sind einfach extrem anfällig für Atemwegsinfekte, da auch hier ihre empfindlichen (Schleim-)Häute betroffen sind und ihr generell schwächeres Immunsystem die umherfliegenden Viren und Bakterien nur schwer abwehren kann. Aber was nützt es - drei Kinder zwischen 0 und 6 Jahren parallel mitten in der Nacht wieder zum Schlafen zu bringen ist doch ein Kinderspiel! Äh nein.

So, und zu alledem muss ich dann am Morgen mit minus 5 Stunden Schlaf auch noch über diesen Kinofilm #Elternschule lesen, der mich wieder innerlich auf die Barrikaden hüpfen lässt, und trotz Schlafmangels mein Blut in Wallungen bringt. Viel ist in den Medien dazu bereits berichtet worden. Verstörenderweise finde ich in vielen einschlägigen Blättern (Süddeutsche, Spiegel, Zeit) hauptsächlich neutrale bis positive (!) Rezensionen - dabei hat der Spiegel selbst z.B. noch vor 10 Jahren über die “Pseudomedizin” in der Jugend- und Kinderklinik Gelsenkirchen berichtet. Immerhin, langsam regt sich Protest in den sozialen Netzwerken. In meinen Augen äußern sich viele Eltern, Blogger, Therapeuten usw. zu Recht über die “unorthodoxen” Methoden, denen die Kinder in der Klinik ausgesetzt sind. Mich schaudert es. Diejenigen unter Euch, die den meiner Meinung nach schockierenden Erfahrungsbericht  auf Kratzekind vor einigen Wochen über die Kinderklinik Bellevue gelesen haben, werden gegebenenfalls Ähnlichkeiten zwischen den beiden Kliniken feststellen. Das Gelsenkirchener Behandlungsverfahren ist ebenfalls ein in der Fachwelt hoch umstrittenes, psycho- und verhaltenstherapeutisches Vorgehen. Die dabei eingesetzten Methoden bewegen sich nach Einschätzung etwa des Kinderschutzbundes nicht nur an der Grenze zur Gewalt - sie überschreiten diese meines Erachtens mit voller Wucht. Zahlreiche Ärzte, Kliniken und Verbände wie der deutsche Kinderschutzbund oder der Bundesverband Psychiatrie Erfahrener schlagen Alarm, sie sehen das in dem Film gezeigte Einsperren von Kindern in abgedunkelten Räumen, das zwangsweise Zuführen von Essen oder das Weinen und Schreienlassen bis zur körperlichen Erschöpfung als traumatisierende Erziehungsmethoden, mich erinnern sie an die 30er Jahre. Ich frage mich, ob nicht ohne Grund den Verfechtern des Gelsenkirchener Ansatzes immer wieder eine Nähe zu dem Antisemiten Ryke Geerd Hamer, dem Gründer der “Germanischen Neuen Medizin” nachgesagt wird. Diese gewalttätigen und folterähnlichen Praktiken erscheinen mir als untragbar.

Was mich aber um so mehr auf die Palme bringt, ist ein bislang weniger im Fokus stehender Aspekt: Wozu werden diese Methoden überhaupt eingesetzt? Um chronisch kranke Kinder, die z.B. an Neurodermitis und Asthma leiden, zu therapieren! Wie um alles in der Welt kann man im Jahre 2018 behaupten, dass diese  Erkrankungen durch eine drei-wöchige Psycho- und Verhaltenstherapie der Eltern, Kinder und Babys (!) heilbar seien? Das ist m.E. grob fahrlässiger Unfug. Meiner Meinung nach treibt dieser Suggestion von Heilung verzweifelte Eltern und Patienten immer wieder in derartige Einrichtungen. Atopie kann nicht mal eben wegtherapiert werden (mit welchen Methoden auch immer!) und verschwindet nicht einfach aus den Genen. Natürlich helfen Elternschulungen im Umgang mit den chronischen Erkrankungen der Kinder und sicherlich spielt auch die Psyche bei vielen Erkrankungen, und so auch bei Atopie, eine Rolle. Aber den Eltern glaubhaft zu machen, Neurodermitis und Co. seien mit "konsequent Durchgreifen’ wegzuwischen wie ein Vogelschiss auf der Windschutzscheibe, weckt bei mir Assoziationen von Aderlass und Ablasshandel (die Eltern nehmen die Schuld auf sich, das Kind zu sehr gestresst zu haben, also bezahlen sie nun für ihre Fehler). Wieder hegt sich Groll in mir.

Diese kleinen Seelen dabei auch noch zu filmen, wie sie sich aus Ekel erbrechen, blutig kratzen oder fast ohnmächtig werden vor Schreien und Weinen, ist für mich einfach nur der Gipfel der Würdelosigkeit. Ich empfinde das als derart erniedrigend, respektlos und voyeuristisch, dass sich in mir alles zusammen zieht. Und oben drein noch ein massiver Eingriff in die Privatsphäre der Kinder - Einwilligung der Eltern hin oder her.

So, und jetzt werde ich gefragt: Schaust Du Dir den Film denn an? Wie willst Du das alles beurteilen können, wenn Du den Film nicht gesehen hast?

Hallo?! Muss ich vom Kölner Dom springen, um zu wissen,  dass mir das nicht recht bekommen wird? Mir reicht, was ich lese. Diese Film-Produktion bekommt von mir keinen Cent und soll durch mich nicht noch zum Kassenschlager oder Anwärter einer Goldenen Lola/Henne/Hund, Katze, Maus oder sonst was mutieren. Der einzige Hoffnungsschimmer ist meiner Meinung nach, dass diese in Frage stehenden Kliniken, die in der “Neuro-Szene” schon lange sehr kritisch diskutiert werden, in der breiten Öffentlichkeit nun einmal das Maß an Aufmerksamkeit erhalten, das es Eltern erlaubt, sich umfänglich zu informieren und kritisch mit diesen wissenschaftlich hoch umstrittenen Methoden auseinanderzusetzen bevor eine mögliche Traumatisierung ihres chronisch kranken Kindes von Vertretern dieser Theorien meines Erachtens gegebenenfalls billigend in Kauf genommen wird.

So, ich fahre jetzt mal meinen Puls wieder runter - dann geht's ab ins Taschentuch-Schnief-Schnäuz-Training Teil 2. Und danach gibt's erstmal ein dickes Eis für unsere Patienten. Hilft bestimmt auch gegen Schlafdefizit, chronische Ringe unter den Augen und zu hohen Blutdruck von Mamas.