Kratzekind

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Über KiTa-Feste, Neurodermitis & Bitch-Fights im Netz

Gestern war bei uns richtig Ramba Zamba angesagt. Auf der Haut und auch sonst. Aber erst einmal der Reihe nach.

In der KiTa fand die alljährliche Schulkinderverabschiedung statt, das Highlight des Jahres schlechthin für alle kleinen Mäuse im Viertel. Heimlich angehimmelte, ehemalige Kita-Hasen, so 'richtig große' Geschwisterkinder, Family; sprich, alles, was Rang und Namen hat bei den Kids sollte dort auf dem imaginären roten Teppich auflaufen:

Kratzekind: "Boah, sogar der Jakob kommt zum Fest, Mama, dabei geht der schon fast aufs Krummnasium oder wie das heißt!"

Ich: "Zum 'Krummnasium'? Ist das nur was für Mädels und Jungs mit krummen Nasen oder wie?"

Kratzekind: "Quatsch Mama, das ist für die, die richtig groß sind und die alles über 'Starwurst' wissen, so wie Jakob halt. Die, die sich voll gut um uns Kleine kümmern und auch mal mit uns spielen, die gehen auf die 'Freie Schule', so wie Titus. Da hat man immer frei, hat seine Schwester mir mal gesagt. Um zu spielen. Logisch."

Ich: "Äh. Klar. Logisch."

Zum Glück ist unser Großer eigentlich noch klein. Er wird noch für eine ganze Weile weder aufs Gymnasium für krumme Nasen noch auf die freie oder sonst irgendeine Schule gehen. Erst 2018 ist es für ihn soweit.

Der Punkt ist: es tummelte sich an diesem Nachmittag bei uns in der KiTa die Créme de la Créme der Kinder-Szene. Zudem mangelte es an nichts: Ob Konfettibombe oder grüngelber Gummibärchen-Kuchen ("Mama, den haben wir gebacken, den MUSST Du probieren!" – "Oh.Toll. Ach, gleich so ein großes Stück…das ist aber lieb..Danke!" Hilfe, bitte nicht!!), ob selbstgebastelte Schultüten oder Regenbogen-Muffins mit blauer Glasur (Yum!), ob lebensgroße Pappmaché Pferde oder Seifenkiste im Rennwagen-Look – hier blieb kaum ein Kindewunsch offen. So schön!

Und es hat Zoooom gemacht

Party? Aufregung? Adrenalin-Kick? Bei so einem Spektakel wollen auch Juck- & Kratzemonster nicht fehlen! Grrrrr. Die Haut veranstaltete folglich ihr spezielles 'Feuerwerk der Quaddeln' und zelebrierte den Schulkinderabschied auf ihre ganz eigene Weise.

Denn unser Kratzekind war extrem aufgeregt. Nicht nur wegen der illustren Gästen, nicht nur wegen des jahrmarktähnlichen, bunten Treibens. Sondern auch wegen seiner Verabschiedung. Denn schließlich würde auch er die Kita in 3 Wochen verlassen. Für immer. Denn wir gehen für ein Jahr ins Ausland, und so bekam auch er nun ein Jahr im Voraus seine Schultüte überreicht und wurde ganz offiziell aus der Kita 'pensioniert'. Wie viele Gedanken und Gefühle müssen da einem Kind durch den Kopf schießen? Kein Wunder, dass der kleine Körper das alles irgendwie 'rauslassen' muss – bei unserem Kind eben über die Haut. Symptomatisch dafür war der Moment, in dem unser Kratzekind förmlich zur Verabschiedung aufgerufen wurde: Fotoapparate klickten, Stühle rückten, Händchen klatschten und riefen seinen Namen - das Kratzekind hat seinen 'Starauftritt'! Und…Boom!

Da stand er auf der kleinen Bühne, dieses mutige 5-jährige Kerlchen – lächelte und zuppelte zeitgleich ungelenk hinterrücks an seinem T-Shirt herum, nestelte an der Haut und – kratzte eifrig den Rücken wund während er mit der anderen Hand stolz seine Schultüte entgegennahm – Ach ja. That's Neurodermitis-Life.

Die Spuren, lange Striemen am Rücken, begutachteten wir am Abend. Aber nicht nur diese. Die Beine waren schwer angegriffen, entzündete Pusteln und Quaddeln belagerten die Oberschenkelinnenseiten, Kniekehlen und das Steißbein. Aufregung wühlt unser Kratzekind eben 'ganzheitlich' auf, nicht nur im Kopf. Das Eincremen war dementsprechend – und auch bei fortgeschrittener Müdigkeit- für alle Beteiligten eine abermalige 'Herausforderung' um es milde auszudrücken (= ganz normaler Kratz-Jaul-Ächz-Schrei-Schimpf-Ahh-Ich-Will-Hier-Weg-Heul-Ich-Auch-Warum-Wir-Wahnsinn-Moment für alle), denn auf den angeschlagenen Partien der Haut schmerzte jedwede Creme oder Lotion. Es verursacht jedes Mal immense Stiche im Herzen, dem eigenen Kind ein Medikament oder eine Pflege gegen seinen Willen aufzudrängen. Man will helfen und trotzdem geht alles in die Hose. Das machte mich mal wieder stinke-wütend.

Bitch Fights im Netz

Aber noch wütender machen mich die bissigen Kommentare anderer Mütter (und Väter), die ich immer wieder im Netz, in Gruppen und Foren lese und höre, die mir in solchen Momenten zusätzlich durch den Kopf schießen: "Wer zum Schulmediziner geht, kann nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, die stecken alle mit der Pharmaindustrie unter einer Decke" oder "Wer regelmäßig cremt, schadet seinem Kind, denn die Neurodermitis Haut heilt nur von Innen. Das Kind – oder die ganze Familie! - hat psychische Probleme." An alle da draußen: Danke, aber ein schlechtes Gewissen habe ich bereits, dafür brauche ich keine Ich-weiß-alles-besser-Retro-Naturheilkunde-PfadfinderInnen-Mamas!

Wenn manche meinen, sie verzichten auf wissenschaftlich fundierte Therapieoptionen zur Linderung von Schmerz und Entzündung, dann ist das ihre Entscheidung und ich respektiere das. Aber denjenigen abfällig entgegenzutreten, die sich für einen anderen Weg entscheiden, das finde ich nicht in Ordnung. Vor Kurzem erhielt ich z.B. eine Nachricht: "Hilf' Deinem Kind mit rein pflanzlicher Medizin, mit Globuli und Bioresonanztherapie, statt mit Chemie und toxischen Substanzen; wie kannst Du Deinem Kind so schaden?" Ohne hier jemandem zu nahe treten zu wollen aber: Kennst Du den Zustand der Haut meines Kindes? Siehst Du wie sich mein Kratzekind windet, die aufgeplatzten Fußballen, den Schorf unter den Nägeln? Hast Du 8 Jahre Medizin studiert? Welchen Kompetenznachweis erbringst Du? Warum maßen sich manche selbsternannten Hobby-Heilpraktiker–Muttis eigentlich an, mit ihren Beiträgen über selbstgebraute Kräutermixturen & erdige Pasten zahlreiche Mütter und Väter zu verunsichern, beschuldigen, denunzieren, manipulieren (und zum Teil durch die vehemente Ablehnung der Schulmedizin wohlmöglich das Wohl ihres eigenen oder fremder Kinder zu gefährden?!) Das geht mir, mit Verlaub, richtig auf die Nerven manchmal.

Außerdem: Seit wann sind Globuli bitte rein pflanzlich?! Ich rede da keinem rein, wer an die Wirkung von Globuli glaubt, nur zu. Aber wenn man daran glaubt, dass die angegebenen Inhaltsstoffe tatsächlich in den Globuli enthalten sind (wissenschaftlich ist dieser Nachweis bislang ja m.E. noch nicht gelungen), so fallen Aluminium, Kohle, Quecksilber, Natrium Chlorid, Arsen, Essenzen von Pusteln der Krätze, Chlor oder Plutonium sicher nicht unter die Definition von rein pflanzlichen Stoffen.

Selbst eines der größten deutschen Homöopathie-Portale im Netz mit rund 350.000 Besuchern pro Monat empfiehlt bei Neurodermitis, dass die homöopathische Therapie nur 'bei leichten Krankheitsverläufen oder in sehr frühen Stadien erfolgsversprechend' sei und ansonsten lediglich 'als Begleittherapie zur Schulmedizin' eingesetzt werden solle. Selbsternannte Aus dem-Bauch-Heraus-Druide-über-Nacht-Papas & Kräuterliesl-2.0-Mamas diskreditieren mit ihren fatalen Ferndiagnosen per Foto und ihrer Mediziner-Schelte nicht nur Tausende von Ärzten, sondern auch diejenigen unter den mittlerweile über 40.000 Heilpraktikern in Deutschland, die sich wirklich tief mit den Themen beschäftigen und wohlmöglich tatsächlich ergänzend Hilfe leisten können. Anderen ein schlechtes Gewissen, 'Schlechtes-Mutter-Sein' oder Inkompetenz einzureden, sobald man zu Medikamenten gegen die Entzündungen greift oder die Haut des Kindes regelmäßig cremt, ist fahrlässig denjenigen Kratzekindern gegenüber, deren Haut genau diese Therapie benötigen. Es ist zudem verantwortungslos den Eltern gegenüber, die noch nicht über viel Erfahrung in Sachen Atopie verfügen, nach Hilfe im Netz suchen und denen hier vorgegaugelt wird, schwerste Neurodermitis könne man 'heilen'. Wenn durch solche 'Tipps' und 'Stimmungsmache gegen das Establishment' notwendige Arztbesuche verschleppt werden, wäre das fatal für das betroffene Kind. Viele dieser 'Hardliner'-Social Media Gruppen, in denen man entfernt wird, wenn man das Wort 'Kortison' erwähnt, werden zudem beim näheren Hinschauen vereinzelnd auch von Menschen mit fragwürdiger Kompetenz und seltsam anmutendem Background geleitet, die manches Mal vielleicht auch eine ganz eigene (politische oder wirtschaftliche) Agenda haben; viele Verkäufer tummeln sich dort, spielen sich die Bälle zu und werden den Sorgen der betroffenen Eltern nicht ansatzweise gerecht. Dadurch wird die Arbeit zahlreicher Verbände und Eltern, die sich tatsächlich redlich (und ehrenamtlich) engagieren, vernetzen und zusammenschließen, sei es im Netz oder anderswo, durch den Kakao gezogen und in Teilen zunichte gemacht.

Ich bin der festen Überzeugung, dass sich Pflanzenkunde und Schulmedizin vereinen lassen und wunderbar ergänzen können. Aber: Eltern zu verunsichern, weil sie einem studierten Arzt Glauben schenken statt z.B. einem Heilpraktiker (übrigens bislang ohne gesetzlich kodifizierte Berufspflichten oder eine staatlich anerkannte Berufsordnung) oder selbsternannten 'Neurodermitis-Anamnese & Therapie-Spezialisten-Eltern' ohne jedwede Qualifikation? Das finde ich ein starkes Stück.

Levve un levve losse (= Kölsch für Toleranz!)

Wir sitzen doch alle in einem Boot: wir haben alle ein krankes Kind, keine Lösung und das zerreißt uns, tagtäglich.

Ich wünsche mir, dass sich Kratzemamas und –papas noch mehr miteinander solidarisieren, sich gegenseitig Kraft geben und unterstützen, anstatt sich in dogmatischen 'Glaubenskriegen' anzufeinden. Wer meint, sich stärker naturheilkundlich ausrichten zu wollen – fine. Wer es lässt und stärker auf wissenschafts- und Evidenz-basierte Medizin setzt – auch gut. Voneinander lernen im offenen Dialog können beide Seiten allemal. Leben und leben lassen ohne spöttischen Blick oder gerümpfte Nase, sondern mit offenen Armen und freundlichem Lächeln; das kriegen wir doch locker hin – oder? Alle zusammen. Statt gegeneinander.

Heute Morgen sahen die Beine unseres Kratzekindes zum Glück wieder ein wenig besser aus, die Creme mit dem höheren Fettgehalt hat ihm anscheinend gut getan und die Wolken am Himmel auch. Heute schieben wir mal 'ne ruhige Kugel ohne Ramba Zamba – vielleicht.