Kratzekind

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Alles auf Anfang - Ein Familienleben mit Neurodermitis & Asthma

"Schöne Beene hat der Kleene" - Das Kratzemonster kann uns mal! Glücklich trotz atopischer Neurodermitis.

"Das Universum ist ganz schön groß Papa", sagte ich zu meinem Vater als ich etwa fünf Jahre alt war nachdem ich ihn über das Buch ausquetschte, das auf seinem Schoß lag - eine kleine Geschichte der Zeit. "Ja, das Universum ist groß, unendlich groß", antwortete er damals beiläufig, weiter in sein Buch vertieft, "das ist das Leben". "Wie hat das alles angefangen mit dem Leben, dem Universum? Und welche Form hat es, Papa, wie sieht es aus?" "Was denkst Du denn wie es aussehen könnte?", fragte er mich zurück. "Wie ein Kreis. Oder wie ein Ei." platzte es aus mir heraus.

An diese Unterhaltung denke ich oft zurück. An das Ei. Oder den Kreis. Den Kreis des Lebens. Endlich und doch unendlich. Manchmal kommt es mir so auch mit der Neurodermitis und dem Asthma vor. Dem Leben im "atopischen Formenkreis" wie es fachkundig so schön heisst. Mein Großer ist auch fünf Jahre alt, so wie ich damals. Der Erstgeborene. Der Zweifler, der Rebell. Aber er fragt nicht nach dem Anfang. Er will viel weiter. Er fragt nach dem Ende. Wann das endlich aufhört, diese Kratzerei und der Husten. Aber ich kann diesem sensiblen, leidenschaftlichen und energiegeladenen Kind keine tröstende Antwort darauf geben. Er sitzt fest in der Endlosschleife, als ob er beim Monopoly spielen immer und immer wieder diese dämliche Ereigniskarte "Gehen Sie zurück auf Los, ziehen Sie nicht 4000 Mark ein." abkriegen würde - gefangen im atopischen Formenkreis.

Das ist traurig. Oft auch frustrierend. Für ihn. Aber auch für Raupe, seinen kleinen Bruder. Und auch für uns. Manchmal wird einer von uns Vieren stinkesauer. Oder wütend. Irre wütend. Und manchmal werden wir das auch alle auf einmal. Heute ist so ein Tag. Wenn das tägliche Eincremen zur Tortur wird für die ganze Familie. Wenn man schon einen Psychothriller mit Bitten, Drohungen, Flehen, Heulen, Schreien, an schlechten Tagen vielleicht auch Treten, Fixieren und Wahn zu einem Zeitpunkt hinter sich hat, zu dem andere noch nicht mal aufgestanden und die Kaffeemaschine angestellt haben. Manchmal bin ich allein nach der unruhigen Nacht mit zusätzlichen Creme-, Hust- und Kratzphasen und dem morgigen Eincreme-Marathon von Fußsohle bis Scheitel gegen den Willen eines starken Fünfjährigen so fertig, dass ich mich kaum zur Arbeit schleppen kann. Ganz zu schweigen von Schüben die "nicht nur" die Haut sondern auch die Lunge stark betreffen. Nach jedem Schub hofft jeder von uns insgeheim, dass es der letzte war, der allerletzte. Und dass wir noch einen auch nicht mehr aushalten. Keiner von uns. Insbesondere mein Großer. Denn diese Kratzerei ist das Allerletzte. Natürlich geht es um ihn. Hauptsächlich geht es um ihn. Im Grunde fast immer. Und auch das ist wieder Teil des Problems. Raupe, bist Du auch noch da? Ist da überhaupt noch Platz für Dich zwischen all den Wut- und Kratzemonstern? Oh doch! Nur gut, dass Du uns mit Deinem zuckersüßen Lächeln und Deiner stoischen Gelassenheit auch heute wieder daran erinnerst, dass es Dich noch gibt aber sowas von! Du schnappst Dir die Creme, steckst Dein Patschehändchen rein und schmierst ungelenk Deinen Pullover ein. Erst werde ich wütend, "Maaaan, das muss doch nicht sein." - Aber dann schaust Du mich so verschmitzt an, das ich nicht anders kann als loszulachen. Auch der Große grinst. Einmal durchatmen.

"Das wächst sich doch raus" sagen alle - ja, wann denn?!? Wie soll so etwas aus der DNA "rauswachsen"? Pustekuchen, auch wenn ich mir manches Mal so sehr wünschte, das Kratzemonster packt seine sieben Sachen und zieht aus der Doppelhelix einfach aus. Tschüss! Drei Wochen ist der letzte Schub jetzt her. Wir haben zur Zeit einen recht regelmäßigen 5 Wochen Turnus: 2 Wochen Schub, drei Wochen Regeneration. Und heute ging's eben wieder los. Schon die Nacht war übel, mein Kratzekind  wachte mehrfach auf, schwitzte, kratzte; morgens hatte er bereits Hände, die sich anfühlten wie die eines Greises, faltig, rau, geschwollen, wund. Alles auf Anfang. Die blutig gescheuerten, offenen Handgelenke, die roten Augen, die laufende Nase, das Fieber, der Husten, die tiefen Risse auf den Fingerkuppen, so dass er kaum mehr die Lego-Steine zusammendrücken kann ohne dass die Haut aufplatzt wie Eierschale. Und die Ekzeme an Oberschenkeln, Hals und Gesicht, die brennen wie Feuer, egal ob man kühlt, wärmt, cremt, befeuchtet, trocknet, kratzt, salbt. Er ist wütend, richtig wütend. Als ich ihn in die Kita bringe, tobt er, hängt sich an mein Bein, schreit, will nicht da bleiben. Warum? Übersprungshandlungen? Er fühlt sich schlichtweg "nicht wohl in seiner Haut". Wortwörtlich. Und ich habe Tränen in den Augen als ich mich irgendwann losreiße, umdrehe und durch die Tür verschwinde. Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich Angst habe andere Eltern oder Erzieher könnten uns beobachten und denken "oh je, die hat ja wirklich gar nichts im Griff". Habe ich alles im Griff? 

Atopische Dermatitis und ein damit gekoppeltes Asthma bronchiale - Der Körper kämpft gegen ein Schattenwesen. Ein Wesen, das es da draußen doch gar nicht gibt! Autoimmuner Nonsens. Ein Irrsinn der Natur ist diese Krankheit. An diesen Tagen wie heute schaut man sein Kind an, denkt an den bereits lauernden nächsten bevorstehenden "Eincreme-Kampf", die Wut und die Tränen und fragt sich: Warum?  

Meist kommt dann zum Glück nur wenige Sekunden später der rettende Gedanke: Das Selbstmitleid darf uns nicht auch noch jucken - das macht ja schon das Kratzemonster! Wir lassen uns die Zeit nicht vermiesen. Die Neurodermitis & das Asthma beeinträchtigen aber sie bestimmen nicht unser Leben. Und genau darüber will ich schreiben. Hier in diesem Blog. Über die großen und kleinen Freuden des Lebens mit oder ohne atopische Krankheiten, über UPs und Downs, über Fortschritte, Rückfälle und Frustration. Aber hauptsächlich darüber, dass man es schaffen kann: nicht, die Krankheit zu überwinden aber die Einstellung dazu zu ändern: "Embrace it!" 

Hier geht's nicht um neunmalkluge Wahrheiten und Muddis, die denken, mehr zu wissen als der doppelt-promovierte Atopie Spezialist sondern um das 'normale' Leben mit den kleinen Patienten, kleine Kniffe, Fallbeispiele, Tipps & Tricks; es geht nicht um Lösungen sondern vielmehr darum zu zeigen, dass wir alle einen langen Weg vor uns haben. Nach langer Zeit endlich das Gefühl zu haben in die richtige Richtung zu gehen; nicht um die Hoffnung, dass die Kratzerei irgendwann aufhört sondern um Akzeptanz und den inneren Frieden damit bevor das Kratzemonster einen oder alle in der Familie psychisch oder physisch auffrisst. Ich möchte von unserem Alltag berichten, Euch erzählen von unserer Reise durch Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken und Homöopathie-Zentren, dem Finden meiner Rolle als "Neuro-Mom", den tagtäglichen Kämpfen und kleinen Siegen, ich möchte mit Euch teilen, was ich verstanden (und auch nicht verstanden habe), aufzeigen worüber wir lachen und worüber wir weinen im Kontext der atopischen Neurodermitis und mich mit Euch austauschen darüber wie schön das Leben ist - auch mit Kratzekind.


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