Kratzekind

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Ein Blog über das eigene Kind - kann das gut gehen?

Ich sitze im Bus irgendwo zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Niagara Falls und dem Nordosten Kanadas, wo wir gemeinnützig auf einer Farm mithelfen werden, will sagen: irgendwo in diesem unfassbar riesigen Land. Diese Weite und Freiheit sind imposant. So habe ich sie vor vielen Jahren lediglich in den USA oder während diverser Backpacking-Trips in Südostasien erlebt. Die Weiten waren ähnlich, die Freiheit fühlte sich damals nicht wahrhaftiger oder besser an aber doch zumindest anders, noch allein und ohne Kinder.

"Mama, 'Was-Ist-Was - die Wikinger' ist zu Ende, ich höre jetzt 'Was-Ist-Was - die Insekten!'" schreit mir der kleine Mensch mit dicken Kopfhörern neben mir ins Ohr - so laut, dass sich gefühlt die Hälfte der Busreisenden zu uns herumdreht oder alternativ zusammenzuckt. "Aha", sage ich, streichele ihm über den Kopf und betrachte ihn, während er aus dem Fenster in die Ferne schaut, und Raupe, sein kleiner Bruder, hinter uns, quer über zwei Reisebussitze hinweg, vor sich hin schnorchelt.

Unsere Kinder fühlen sich pudelwohl. Die Haut unseres Kratzekindes ist nach dem Schub vor drei Wochen wieder stabil und sieht insgesamt betrachtet recht gut aus. Ohne Kortison ging es dieses Mal nicht. Noch schleichen wir aus. Und doch heckt die Haut  schon wieder irgendetwas Neues, Unbekanntes aus, als ob sie mit den neuen visuellen und kulturellen Erfahrungen und Eindrücken, die wir hier sammeln, Schritt halten will. Seit zwei, drei Tagen juckt es gewaltig rund um den Ringfinger, zudem haben sich Pusteln auf Armen und Hals bereitgemacht.

Sind es Sonnenpickelchen? Hat sich am Finger ein Pilz eingenistet (bitte nicht schon wieder!!)? Ist es eine allergische Reakion auf das fruchtbare Land und die vielen Gräser rund um die atemberaubenden Wasserfälle? Eine bakterielle Geschichte? Oder ist es an der Hand lediglich ein Tick (unser Kratzekind hat davon so einige...Eure eigentlich auch?), vielleicht der Nervosität oder der Aufreung geschuldet; immerhin macht man ja nicht alle Tage eine 'Weltreise'?

Ich weiß es nicht. Und ich erwische mich dabei, wie ich versuche, es wegzuignorieren (gibt es nicht das Wort? Egal, jetzt schon!). Ich merke, dass ich mit den Jahren der Atopie ein kleines bisschen überdrüssig werde; es strengt mich einfach an, ständig Krankenschwester zu spielen, 24/7 on alert zu sein, unentwegt zu interpretieren, ständig herumzudoktern - als ob es groß was bringen würde. Auch die tägliche Pflege wird nullkommanull entspannter, ob auf dem europäischen oder amerikanischen Kontinent, da gibt es leider bislang keine Unterschiede. Erst gestern Morgen haben wir beide, also das Kratzekind und ich, uns wieder derart angegiftet, nachdem er sich geweigert hatte eingecremt zu werden, dass die Fetzen flogen und die Tränen liefen -  auf beiden Seiten. Ätzend (by the way: werden eure Kratzekinder auch regelmäßig so ein bisken 'aggro', sind launisch und selbstzweifelnd?).

"Mama, bin ich behindert?", fragte mich der Große vor ein paar Tagen. Puh - schwierige Frage. Ja und nein irgendwie. Man merkt, wie die Atopie in ihm arbeitet. Nicht nur physisch. Das tut mir weh und so leid und macht mich selbst 'aggro' und alles gleichzeitig.

Letztens las ich einen verzweifelten Beitrag einer lieben Kratzemama: sie sei derart mit den Kräften am Ende, dass sie befürchte, ihre Liebe zu dem erkrankten Kind könne abnehmen oder irgendwann gar verschwinden. Wie ehrlich und traurig. Auch wenn ich an dem Punkt noch nie angelangt  bin, so kann ich ihre Verzweiflung gut nachempfinden. Man will der chronischen Erkrankung nicht so viel Raum geben im Familienleben, sie ausblenden, und doch ist sie durch ihre Omnipräsenz nie ganz weg, irgendwo schaut immernoch ein Ohr des Hustefuchses unter der Bettdecke hervor, oder ein zotteliges Stück Fell von diversen Juck- und Kratzemonstern. Ärgerlich!

Und dann noch einen Blog dazu!? Warum um Himmels Willen sich noch mehr damit beschäftigen als notwendig? Warum öffentlich?

Die Idee mit dem Blog kam mir nicht über Nacht. Sie ist mit jedem neuen Ausschlag, jeder Bronchitis, jedem Ekzem, jedem Schub, über die Jahre stetig gereift. Es war ein Annäherungsprozess. In langen Nächten mit zu wenig Schlaf. Während des Tablettenmörserns. Beim steten Gang zur Apotheke. Während des Zerplatzens vieler  Seifenblasen, des Scheiterns zahlreicher Strohhalme. Während des Cremens und in vielen 'das-hat-doch-alles-keinen-Sinn-mit-dem-Cremen'-Phasen.

Aber all das geschah im Verborgenen, ich frickelte und wurschtelte in Eigenregie herum. Irgendwie musste das raus, ein Ventil musste her und vor allen Dingen wuchs das Bedürfnis anderen zu zeigen: schau, du bist nicht die einzige, der das alles tierisch gegen den Strich geht, die hilflos ist und wütend. Und zugleich wollte ich Mut machen den Weg weiterzugehen. Im Zweifel gemeinsam. Viele Eltern realisieren die Atopie bruchstückhaft in den ersten Lebensmonaten oder im ersten Lebensjahr und hoffen auf Heilung. Bei einigen klappt es. Aber für viele bleibt diese Hoffnung eben unerfüllt. Wie damit umzugehen? 

Als erste Texte und eine grobe Alpha-Version der Website standen, ging ich mit mir nochmal in medias res: das eigene Kind als Zentralgestalt eines (sprich: meines) Blogs - ist das nicht nur was für selbstsüchtige Prenzlauer Berg Uschis? Grenzt es nicht an Exhibitionismus über das eigene Kind zu schreiben, das tatsächliche Leben hautnah zu dokumentieren? Ein Ausverkauf der Interessen meiner Kinder?

Nein. Denn das zentrale Thema des Blogs ist nicht unser Sohn;  es ist der Alltag mit Atopie in der Familie. Eine 'Zentralgestalt' gibt es nicht. Das Team ist der Star, die gesamte Familie und ihr Umgang mit den atopischen Krankheiten. Ich will keine Märchen, keine Wundermittel-Stories mehr lesen, geschweige denn verfassen, und auch kein dermatologisches Lexikon abschreiben, sondern über die emotionale Seite von Atopie sprechen, denn nur damit kann ich vielleicht anderen Mamas und Papas da draussen eine Hilfe sein - Infoseiten und Wissenschaftliches gibt es genug im Netz.  Ich möchte unsere Geschichte exemplarisch erzählen, unverschönt und ohne Filter, gerade, um damit anderen die Angst zu nehmen, das Befremdliche, den Umgang mit Asthma, Neurodermitis,  Allergien und Co. zu erleichtern, Mut zu machen, Schwächen offenlegen, Fehlbarkeit offen anzusprechen, mich auszutauschen, zu zeigen: ihr seid nicht allein. Und damit auch (m)einen kleinen sozialen Beitrag leisten, etwas zurückzugeben.

Dennoch: Zweifel überkamen mich. "Aber stell Dir vor, Klassenkameraden Deines Großen lesen den Blog später einmal und machen sich über ihn lustig, schauen sich seine Kinderbilder an, ekeln sich, das kannst Du ihm doch nicht antun wollen". Nein, das will ich nicht. Natürlich nicht. Und deshalb poste ich auch keine identifizierbaren Fotos meiner Kids in den sozialen Medien oder im Blog, weder Happy-Smile-, noch Gruselhaut-Schnappschüsse. Meine Kinder sollen später selbst entscheiden, was sie teilen möchten, und so lange sie das nicht können, tragen wir die Verantwortung für ihre virtuelle Existenz und Präsenz bzw. eben Nicht-Präsenz. Auch ihre Namen werden nicht veröffentlicht, nichts zu Privates aus ihrem kleinen großen Leben verbloggt, um genau ihre Privatssphäre und ihren noch nicht vorhandenen digitalen Fingerabdruck zu respektieren und zu schützen. Mit diesem Kompromiss kann ich leben und ich hoffe meine Leser und Leserinnen auch.

Ich schaue aus dem Fenster, saftige, grüne Landschaften ziehen an uns vorbei; das Kratzekind schlummert mittlerweile auf meinem Schoß, als ob es kein Wässerchen trüben könnte. Von wegen! Und doch noch so klein und schutzbedürftig. Alle Jubeljahre kommen wir an einem Haus vorbei. Die Menschen müssen in einem solch weiten Land wie Kanada auch mit ihrer Einsamkeit gut zurechtkommen. Ich wollte das nicht mehr, zumindest nicht im Hinblick auf die Atopie. Es brauchte ein Ventil. In Begleitung des steten Ratterns der alten Busreifen döse ich vor mich hin. Willkommen in Canada. Willkommen beim Kratzekind Blog.